Katrin-Lisa Laius ist Absolventin des Deutschen Gymnasiums Tallinn, die 2019 einen bewundernswerten zweiten Platz im internationalen Finale von Jugend debattiert belegte.
1. Was hat Sie inspiriert / Wer hat Sie ermutigt, bei Jugend debattiert mitzumachen?
Um ernst zu sein, wollte ich nicht teilnehmen. Die 11. Klasse ist schulisch sehr schwer und ich hatte auch außerhalb der Schule sowieso viel zu tun. Meine Klassenkameradin hat unserem
Lehrer versprochen, dass sie an Jugend debattiert teilnimmt, aber hat sich unentschieden und hat mich gebeten ihren Platz einzunehmen. Ich wollte nicht teilnehmen, aber wir waren gute Freunde also war ich einverstanden. Ich bin zu den Qualifikationsrunden als Ersatz gekommen, damit wir ein vollständiges Debattenteam haben, also vier Leute. Sie haben mir versprochen, dass ich nicht bewertet und bepunktet werde. Nach der ersten Debatte ging mein Lehrer Herr Voss bei den anderen Lehrern und Lehrerinnen nachfragen, warum ich nicht teilnehme. Anscheinend lief es bei der Debatte ziemlich gut. Danach kam eine ganze Gruppe von Lehrern und Lehrerinnen zu mir und sie fragten, warum ich nicht teilnehme und, ob ich es machen wolle. Ich wollte es nicht machen, aber es wäre komisch gewesen nein zu sagen, wenn die Lehrer und Lehrerinnen dich sogar ansprechen. Also war ich einverstanden, aber habe die ganze Zeit gejammert, dass ich es nicht machen will, dass ich gezwungen werde usw. Es schien damals wirklich so und manchmal war es mental eine Herausforderung, dort zu sein, weil ich konstant daran gedacht habe, wie ich da nicht hinpasse. Die 11. Klasse war schwierig. Zuletzt bin ich sehr dankbar an Herrn Voss, dass ich am Projekt teilgenommen habe und es so weit geschafft habe.
2. Was gefällt Ihnen am Debattieren? / Warum debattieren Sie gerne?
Mir gefällt, dass Debattieren einen zum Denken und Analysieren motiviert. Ich habe oft irgendeine Meinung über eine Sache und diese Meinung existiert einfach und basiert auf nichts. Wenn man dann plötzlich diese Meinung begründen muss, fängt man wirklich an zu denken, warum es richtig oder falsch ist, ob es konkrete Beispiele dafür gibt, wogegen man einfach nicht argumentieren kann. So fangen wir an zu analysieren, warum wir eine Meinung haben und ob es wirklich richtig oder nur eine beliebte Meinung ist oder, ob ich diese Meinung nur deswegen habe, weil ich mich von den anderen differenzieren möchte. Es ist normalerweise sehr schwierig jemanden von einer bestimmten Meinung zu überzeugen, deswegen muss man immer gut nachdenken was und wie man etwas sagt, damit sie dir zustimmen. Wenn die andere Person für ihre Position auch argumentieren kann, dann ist es noch besser, denn man kann so auf die Schlussfolgerung kommen, dass die Welt nicht schwarz-weiß ist und dass keine Meinung 100% richtig oder falsch sein kann.
Während Debatten ist es wichtig den Anderen auch zuzuhören und nicht nur auf die eigene Sprechzeit zu warten. Wenn man an Jugend debattiert teilnimmt, gibt es da Regeln, die man befolgen muss und außerdem muss man an die Mitdebattantinnen und -debattanten genau anknüpfen. Das ist einer der Aspekte, die mir an dem Wettbewerb wirklich gefallen hat, weil oft hören wir unseren Gesprächspartnern im Alltag überhaupt nicht zu und hören deshalb nicht was sie wirklich sagen möchten.
3. Würden Sie sagen, dass es schwierig ist, auf Deutsch zu debattieren? Warum/Warum nicht?
Sicherlich ist es schwieriger, die eigenen Gedanken in Worte zu fassen als auf Estnisch. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass wir in unserer Schule (Tallinna Saksa Gümnaasium) bis zur zehnten/elften Klasse ein ausreichend hohes Sprachniveau haben, sodass wir ganz gut debattieren können. Ich kann mich zum Beispiel daran nicht erinnern, dass ich Probleme gehabt hätte, die Sprache zu verstehen. Während der Vorbereitung auf die Debatten musste ich nicht jedes zweite Wort übersetzen, das gleiche gilt für die Debatten – ich kann mich nicht erinnern, jemanden etwas sagen zu hören, das ich nicht verstand. Der Wortschatz war bereits gut genug, daher glaube ich nicht, dass es für Schüler unserer Schule sehr schwierig ist, die Sprache zu verstehen.
Allerdings ist es sicherlich schwierig, mit sich selbst ins Gespräch zu kommen. Ich kenne vielleicht das Wort, das ich brauche, aber ich kann mich zur richtigen Zeit daran nicht erinnern. Die Grammatik wurde meist komplett vergessen. Meiner Meinung nach hängt es daran, dass wir in der Schule nicht so viel sprechen lernen. Vielmehr machen wir Sachen schriftlich, und jeder kann schöne und logische Sätze schriftlich zusammenstellen, weil man Zeit hat, darüber nachzudenken, wohin man was hinführt. Beim Sprechen hat man jedoch nicht so viel Zeit zum Nachdenken, man muss es gleich sagen. Dann kommen die Nerven ins Spiel und schließlich geht die ganze deutsche Sprache aus dem Kopf.
Aber Übung macht den Meister, und nach einer Weile kannst du gut reden.
4. Sie waren mit dem Projekt auch im Ausland, was war Ihr denkwürdigster Moment?
Ich bin mir nicht sicher. Ich bin für die Finalwoche nach Budapest gefahren und ich muss sagen, dass die ganze Woche voller toller Momente war. Als Beispiel möchte ich zwei Nächte anführen, also vor dem Halbfinale und vor dem Finale, als wir zu viert im Zimmer von Frau Reissaar saßen, also Polina (die zweite Teilnehmerin aus Estland), Kadri (Alumna aus Estland) und Lehrerin Kaja Reissaar und wir bereiteten mich auf die nächste Debatte vor. Es war sehr gemütlich, wir konnten viel reden und lachen. Irgendwie fühlte es sich sehr gut an, so viel Unterstützung und Vertrauen in mich zu spüren, dass ich selbst in mich selbst nicht hatte. Ich sollte betonen, dass ich sehr viel Glück mit den Menschen hatte, die mich damals umgaben, und alle Esten, die nach Budapest kamen, waren sehr hilfsbereit und unterstützend. Ich bin immer noch sehr dankbar dafür.
5. Was sagen Sie rückblickend: Was hat Ihnen die Teilnahme an Jugend debattiert gebracht?
Es war sicherlich praktisch. Zunächst einmal bin ich ein großer Feigling, und vor einem größeren Publikum zu sprechen, war für mich schon immer eine große Herausforderung. Ich kann nicht sagen, dass ich jetzt keine Angst mehr habe, aufzutreten, aber ich habe wahrscheinlich gelernt, etwas besser mit meinen Ängsten umzugehen. Durch meine Teilnahme an Jugend debattiert habe ich viele neue Bekanntschaften und Freunde gemacht, mit denen ich damals viele gemeinsame Ziele hatte, die es uns erleichterten, uns gegenseitig zu helfen und zu unterstützen.
Anscheinend hat Jugend debattiert zu meiner Ausdrucksfähigkeit auf Deutsch beigetragen, weil wir in der Schule nicht so viel reden oder in nur Halbsätzen oder in einzelnen Worten antworten, je nachdem, was von uns gefragt wird. Allerdings mussten wir während der Debatten in logischen Sätzen sprechen, die andere mussten uns auch verstehen können. Dabei muss ich sagen, dass meine Grammatik sich nicht verbessert hatte, im Gegenteil: die ganzen Artikel und alles andere gingen einfach verloren, keiner korrigierte uns und alle anderen sprachen auch grammatikalisch falsch. Jugend debattiert hilft Ihnen nur beim Reden anzufangen, aber es liegt an Ihnen, richtig zu sprechen. Wenn man sich nicht darum kümmert und darüber nachdenkt, dann wird die Grammatik von alleine nicht besser.
Jugend debattiert hat mir mit meinem jetzigen Stipendium sicherlich gut geholfen. Ich studiere in Deutschland und erhalte finanzielle Unterstützung durch das DAAD-Stipendium, und ich bin mir ziemlich sicher, dass die Teilnahme an Jugend debattiert eine große Rolle bei der Bewerbung und der Erhaltung des Stipendiums gespielt hat.
6. Was glauben Sie, kann dieser Wettbewerb für eine demokratische Gesellschaft tun?
Sehr positiv erscheint mir, dass man sich vor der Debatte nicht entscheiden kann, für welche Seite, für oder gegen, der Teilnehmer debattieren wird. Die Positionen werden 20 Minuten vor der Debatte vor Ort ausgelost. Daher müssen die Teilnehmer oft Positionen vertreten, mit denen sie nicht einverstanden sind. Zur Vorbereitung der Debatte ist es notwendig, die Argumente beider Seiten vorzubereiten, unterschiedliche Meinungen zu lesen, auch solche, mit denen man nicht einverstanden ist. Mir scheint, dass in der heutigen Gesellschaft die andere Seite des Problems sehr oft unsichtbar bleibt. Die Meinungen der Menschen werden radikaler und sie wollen immer weniger einander zuhören. Meiner Meinung nach hat Social Media dies sehr begüstigt. Neue Algorithmen sind in der Lage zu verstehen, was eine Person glaubt oder denkt, und zeigen nur Nachrichten und Artikel an, die die gleichen Ansichten wie der Leser haben. Je mehr ein Mensch diese einseitigen Dinge betrachtet, desto mehr wird ihm davon angeboten. Am Ende denken die Leser, dass nur sie Recht haben, weil es so viele Informationen gibt, die ihren Überzeugungen entsprechen. In Wirklichkeit ist die gegenteilige Meinung jedoch genau die gleiche, aber wenn eine Person es nicht sehen möchte, werden soziale Medien dafür sorgen, dass sie es nicht sehen werden. Aber bei Jugend debattiert müssen die Themen von beiden Seiten gesehen werden, und das finde ich in einer demokratischen Gesellschaft sehr wichtig. Das Problem scheint mir heute darin zu bestehen, dass die Menschen unterschiedliche, ja sogar radikale Meinungen haben. Das Problem ist, dass Menschen nicht bereit sind, Leute mit anderen Meinungen zu sehen oder ihnen zuzuhören.
Auch die Notwendigkeit, junge Menschen an das politische Leben heranzuführen und aufzuzeigen, wie Demokratie funktioniert und was die aktuellen Probleme sind, muss erwähnt werden. Viele junge Menschen, ich eingeschlossen, wissen nicht oder wollen überhaupt nicht wissen, was in der Politik vor sich geht. Diese Haltung ist jedoch ziemlich gefährlich, weil sie zeigt, dass wir Demokratie und unsere Freiheit für selbstverständlich halten. Tatsächlich ist dies nicht der Fall. Jeder hat die Möglichkeit, beim Aufbau einer besseren Gesellschaft um sich herum mitzuhelfen, und diese Gelegenheit sollte genutzt werden.
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